Hartmut Mertineit

Erinnerungen an persönlichen Erlebnisse von April 1944 bis April 1948

– nach 50 Jahren -

 

Es handelt sich hierbei um persönliche Aufzeichnungen, welche Hartmut Mertineit im Januar 1998 handschriftlich niedergelegt hat. Er zeichnet darin seine Erlebnisse zwischen 1944 und 1948 nach.

Mich beeindruckt an diesem Bericht vor allem, was damals ein Jugendlicher - 14 Jahre alt - erleben musste. Die vielen Toten und Vergewaltigten, von der harten Arbeit und dem Hunger, von dem Schmerz alles verloren zu haben. Und so ging es ja dem Großteil einer Generation überall in Europa und der Welt.

 

Insgesamt umfassen die Aufzeichnungen 12 Seiten (TNR12pt), aus denen ich hier Ausschnitte veröffentlichen will. Bei Interesse kann ich nach Rücksprache mit Familie Mertineit die gesamten Aufzeichnungen zuschicken.

 

Mit freundlichen Grüßen,

 

Sebastian Trostmann

 

 

„Nach dem Abschluss der Volksschule im März 1944 in Austen ging ich weiter zur Handelsschule in Tilsit. Im Sommer 1944 griffen russische Tiefflieger Züge und Fahrzeuge an, man war draußen immer unsicherer.

 Im Juli bis August kam die Front von Osten näher, man hörte schon manchmal Kanonendonner, besonders nachts. Die Strassen waren nun schon oft mit Flüchtlingen und Militär voll, welche in Richtung Westen strömten.

Nachts hatten wir Flüchtlinge zu beherbergen. Wir Bauern mussten am Tage oft Kies zum Ausbau der Ostwallstellungen fahren. Sie verlief etwa 10 Kilometer östlich von uns.

Im Juli und August wurden Tilsit und Königsberg stark bombardiert.“

 

„Im August - September setzten sich russische Partisanen mit Fallschirmen ab und versteckten sich in den Wäldern. Um sich essen  zu besorgen überfielen sie nachts einzelne Bauernhöfe in Waldnähe und holten sich alles essbare und warme Sachen zum Anziehen. Waren dann aber wieder spurlos verschwunden.“

 

„Das Flüchten war ohne Genehmigung der Partei bei Todesstrafe verboten. Meine Eltern haben sich aber trotzdem für eine Flucht vorbereitet, musste aber geheim bleiben. Der Wagen bekam vier neue stabile Räder, dann wurde auf den Leiterwagen ein Dach aus Blech gebaut, welches grün gestrichen wurde. Es wurden Kisten gebaut, um die Einweckgläser Drinnen zu verpacken. Im Oktober wurden die Gänse und Hühner geschlachtet und eingeweckt oder in Steintöpfe mit Fett eingelegt. Dann wurden auch noch schwarz Schweine geschlachtet.“

 

„Endlich wurde Ende Oktober 1944 die Flucht offiziell durch die Partei vorbereitet, bei uns aber nur der Grenzkreis Schloß und unser Kreis Tilsit-Ragnit. So musste täglich ein bestimmter Bezirk die Heimat verlassen.“

„Der Wagen wurde voll geladen, hauptsächlich Lebensmittel, Brot wurde erst noch reichlich gebacken, dann Futter für die Pferde, sowie Federbetten, Wertsachen und Kleidung.“

 

„Das tägliche Fahrtziel war vorgegeben, wo jeder Ort übernachten konnte, meist bei Bauern, oder Schulen und Säle. Dort waren auch NSV-Küchen (National-Sozialistische-Volkswohlfahrt), wo man abends etwas Warmes bekam.“

 

„Alle noch vorhandenen Männer, auch Ausländer sollten wieder zurück, um das in der Heimat in den Scheunen lagernde Getreide zu dreschen.“

 

„Mutter fuhr Anfang Januar 1945 auch noch einmal mit dem Zug für ein paar Tage zurück. Am 18.Januar 1945 begann der russische Großangriff. Am 19.01. früh, sollte Vater sich in Schillen, beim Volkssturm melden, doch als er dort mit dem Fahrrad hinkam, war davon nichts mehr zu finden, bis Schillen fünf Kilometer. Er fuhr nun sofort zurück, spannte mit Nikolai an, luden noch Futter für die Pferde und Michalina sorgte für Essen und dann ging’s mit Tempo ab Richtung Westen. Erst kamen sie noch ganz gut vorwärts, doch die Straßen wurden durch Flüchtlinge und Militär immer voller. Am 19.01. gegen 10 Uhr sind die Russen schon in Fuchshausen gewesen. Als mein Vater weiter westlich kam, wo noch niemand geflüchtet war, wollten jetzt alle Hals über Kopf fort, dazu Schnee und nachts um minus 20 Grad Celsius. Vater kannte die Gegend einigermaßen, so sind sie auf Nebenstraßen ausgewichen, um vorwärts zu kommen und haben sich dadurch einen Vorsprung geschaffen. Rast wurde nur kurz zum Pferde füttern und tränken gemacht, es ging auch nachts durch, so haben sie die etwa zweihundert Kilometer bei Frost und Schnee in drei Tagen zurückgelegt und sind am Sonntag gegen 22 Uhr bei uns in Migehnen angekommen.“

 

„Die nächsten Nächte verbrachten wir auf unserem Wagen und nur langsam ging es weiter bis zur Autobahn, Nähe Braunsberg (Autobahn Elbing Königsberg) da ging nichts mehr.

Wir waren bis hier immer noch mit den anderen Fuchshausener Wagen zusammen. Nun mussten wir wegen Militär von der Straße runter, in einer Koppel am Waldrand stellten wir die Wagen zu einer Wagenburg zusammen. Die Pferde wurden ausgespannt und mitten in die Wagenburg gestellt. Es stürmte und fror sehr. Die Menschen auf den Wagen unter den mit Decken zugedeckten Dächern. Wir machten uns Feuer zum Wärmen und um etwas zu Kochen, dann kamen russische Flieger und so wurde das Feuer schnell wieder gelöscht. Am nächsten Tag fuhren wir wieder zurück bis zum nächsten Ort Grunenfeld, da war auch ein Gut. Die Häuser waren alle mit Flüchtlingen voll. Die Pferde konnten wir in einer Gutsscheune unterstellen. Die Frauen und wir Kinder fanden in einem Schafsstall Unterkunft und die Schafe wärmten uns. Die Männer auf den Wagen als Wache. Hier bekamen wir alle Durchfall (Ruhr). Es war Frostwetter bis Minus 25 Grad Celsius.“

 

„Am 13.02.45 fuhren wir weiter, es ging nur noch langsam voran, über Braunsberg bis auf die großen Wiesen am [Frischen] Haff, bei Neupassarge, dort standen schon tausende mit Wagen, Schlitten und zu Fuß. Russische Panzer schossen in diese Menge hinein. Übers Eis gab es hier nur eine befahrbare Stelle. Am 15.02. gegen Abend hatten wir diese Auffahrstelle erreicht, welche durch Militär geregelt wurde. Wir standen neben dem Fluss Passarge, da schossen die Panzer einen Schuss über unseren Wagen in die Passarge und ein Schuss einige Wagen hinter uns ein Volltreffer. Nachts durfte niemand aufs Eis rauf, weil durch Bomben viel kaputt geschlagen und Nachts die Löcher im Eis nicht zu sehen waren, um diese zu Umfahren. Wer da rein kam ertrank. Am Freitag, dem 16.02., konnten wir gleich morgens aufs Eis rauf, aber immer im Abstand von 50 Metern wurde nur ein Wagen rauf gelassen, wegen Einbruchgefahr. Es war an diesem Tag heller Sonnenschein, sobald die deutschen Flieger fort waren, kamen die russischen Flieger, haben auf uns geschossen und Bomben geworfen, damit das Eis bricht. Viele sind hier umgekommen, erschossen oder eingebrochen, es kam vor, dass ganze Eisschollen mit vielen Wagen untergingen. Deckung oder Schutz gab es nicht. Am Nachmittag erreichten wir die frische Nehrung bei Neukrug. Die Militärpolizei ließ uns aber nicht an Land, weil dort alles überfüllt war. Alle mussten aufs Eis, neben der frischen Nehrung in Richtung Danzig weiterfahren. Da brach ein Pferd von uns mit einem Hinterbein durchs Eis. Ich ging wie die meisten auch neben den Wagen, sah das und rief: „Vater fahr schnell, wir brechen ein“. Das hatte auch einer von der Militärpolizei gesehen, da ließ er uns und noch etwa zehn Wagen hinter uns an Land. Die anderen wurden um die Gefahrenstelle geleitet und mussten weiter auf Eis fahren.“

 

„Viele waren drei Tage und drei Nächte auf dem Eis gefahren. Wir wollten nun an Land, doch das ging so nicht, da das Eis am Rande kaputt war. Nun mussten wir mit Baumstämmen und Bohlen, welche wir von den Gehöften holten, eine Überfahrt bauen, damit wir vom Eis kamen.“

„Es war inzwischen dunkel, Unterkunft gab es nicht, alles überfüllt, auch die Kirche bis oben voll. Vor der Kirche lag ein Haufen Toter, alles gefroren.

Wir danken Gott, dass wir wieder Land unter den Füssen hatten. Wir schliefen wieder alle neun Personen im Wagen“

 

„Am 21.02. war vor der Weichsel ein längerer Halt, da es dort keine Brücke gab, wurde alles mit einer Fähre übergesetzt, diese war aber wegen Überladung gesunken und musste erst wieder gehoben werden. In der Nacht zum 22.02.45 wurden wir schließlich übergesetzt und kamen an diesem Tag noch bis Oliva.“

 

„Nun hieß es zurück nach Danzig und mit dem Schiff weiter. Am 05.03. fuhren wir und der Rest der Fuchshausener zurück bis Selesen bei Stolp. Das war ein Gut, hatte aber keine, wie dort meistens üblich, Schnapsbrennerei, darauf hat Vater geachtet wegen der dann besoffenen Russen.

Am 09.03.45 wurden wir dann hier von den Russen eingeholt.“

 

„Am nächsten Tag gab es schon eine Kommandantur, diese befahl, dass alle Ausländer sich auf den Heimweg machen sollten, so auch Michalina. Am folgenden Tag kam der Befehl, dass auch alle anderen Flüchtlinge heimfahren müssen. So sind wir und unsere Nachbarn am Montag dem 12.03.45 auch dort fort gefahren in Richtung Stolp. Die Straße füllte sich wieder mit Flüchtlingswagen in Richtung Heimat. 

Als wir und die Anderen Stolp erreichten, wurde jeder Wagen von Russen kontrolliert und die

 Männer, Jugendliche und junge Frauen mussten von den Wagen runter. Da war ein großer Platz, wo schon viele Menschen standen. Von unserem Wagen holten sie Vater, sowie Anna (24 Jahre) und Erna (22 Jahre), die Lengwennes, runter. Und wir mussten weiterfahren. Ich (15) hatte Glück, war nicht groß und hatte kurze Hosen an, viele 12- und 13-jährige mussten runter.“

 

„Wir hatten uns Abseits der Straße in einem Stall niedergelassen. Die Russen kamen täglich immer wieder und wühlten in den Wagen unsere Habe durch und suchten Frauen, vor allem nachts.“

 

„Eines Tages im Mai 1945 kamen auch Russen und nahmen Männer und Frauen mit, welche sie gerade sahen. Unsere Mutter war gerade beim Wäsche waschen, sie nahmen sie gleich mit, wie sie da stand, ohne etwas. Ruth und ich sahen das, wir auch draußen, da sind wir gleich wie wir waren hinterhergelaufen. Wir dachten erst, sie soll zur Arbeit geholt werden, doch als wir zur Hauptstraße kamen sahen wir, dass dort schon viele Menschen mit Bewachung standen. Wir mussten dann alle zum nächsten Ort Altkolzikow gehen, wurden dort in einen großen Garten, wo schon viele Menschen, gebracht. Dieser war stark bewacht, es wurden immer noch mehr Menschen hierher getrieben. Dort mussten alle im Freien bis nächsten Tag ohne Essen und Trinken warten, dann ließen sie alle wieder frei.

Wir erfuhren, dass wir alle nach Sibirien verladen werden sollten, doch zu unserem Glück hatten sie dazu keinen Güterzug bekommen. Daraufhin wurden wir vorsichtiger.“

 

„Wir waren 15 Personen, welche den Heimweg von fast 400 Kilometern zu Fuß antreten wollten. Das waren Mutter, Schwester Ruth, Lengwennes drei Frauen, Slognat Frau und Sohn (11), Schiemann Frau, Sohn etwa 8, Tochter etwa 6, Reiner zwei Personen, sowie Elfriede Wabratt (24) und Ruth Ruttigkeit(25) und ich. Die anderen haben sich diesen weiten Weg nicht zugetraut. Ich war der älteste Junge, hatte noch eine deutsche Generalstabskarte, wonach wir uns richteten, denn Wegweiser gab es nirgends.“

 

„Einen Rasttag hatten wir unterwegs eingelegt, so haben wir für die fast 400 Kilometer 12 Tage gebraucht.“

 

„Zwischen Marienburg und Elbing hielten uns zwei Russen an, wir mussten auf ein in der Nähe stehendes Gehöft, dort wurden wir alle in einen Schweinestall eingesperrt und sie plünderten unsere Handwagen. Als sie fort waren, befreiten wir uns, im Wohnhaus fanden wir hier tote Frauen, welche vergewaltigt worden waren und dann ermordet worden.“

 

„Bei Braunsberg wurde Frau Lengwennes (56) krank und konnte nicht mehr gehen. Wir haben sie auf einen Handwagen gesetzt und die zweihundert Kilometer bis nach Hause gezogen.“

 

„Vater kam dann auch am 10. Juli 45 heim, er war erst im Lager Graudenz und dann in Danzig, dort mussten sie die Schichau-Werke demontieren und nach Russland verladen. Von anfangs 9000 Mann waren nach dreieinhalb Monaten noch 2500 Mann übrig. Alle verhungerten. Er hatte auch Typhus und wog noch 45kg, da wurde er entlassen und über 300 km zu Fuß nach Hause geschickt. […] Er […] machte sich dann langsam, jeden Tag nur eine kleine Strecke, wie er sie gerade schaffte, auf den Heimweg. So kamen wir alle wieder zusammen.“

 

„Lebensmittel gab es in der Heimat keine, den Russen waren wir, aber besonders die Frauen, als Freiwild ausgesetzt. Die konnten mit uns machen, was sie wollten, ein Recht gab es nirgends. Wir haben nun mit auf Bauernhöfen gefundenen Flegeln noch ungedroschenes Getreide in der Scheune gedroschen. Das haben wir mit einem Quirl, welchen Opa gebaut hatte, das waren zwei Mühlsteine übereinander gelegt, im oberen Stein war in der Mitte ein Loch, wo das Getreide handvollweise rein kam und dann wurde der obere Stein durch zwei Personen durch ein Gestell mit der Hand gedreht. Das war eine mühsame und schwere Arbeit. Von diesem Mehl wurde dann Brot gebacken. Wenn wir es nicht gut versteckten, nahmen uns die Russen dieses wieder fort, was wir auch mehrmals erlebten. Wir gingen im Wald und sammelten Pilze, diese wurden aus Mangel an Fett in geschmolzenem Bienenwachs gebraten. Wir pflanzten Anfang Juli auch noch Kartoffeln, aber diese buddelten die Russen, wo erst noch nur kleine dran waren, wieder aus.“

 

„Nun wurde es Herbst und Winter und außer Getreide hatten wir nichts zu essen.“

 

„In Schillen, 5 Kilometer von uns, war im Herbst eine Sowchose gegründet worden. Hier zogen sich nun die Deutschen hin. Vater hat sich nun auch dort nach Unterkunft erkundigt. Der Brigadier war Litauer, der deutsch sprach. Vater bekam einen Pferdewagen, so dass wir am 18.12.45 alle die bei uns mitwohnten, nach Schillen umziehen konnten, wir nahmen Möbel und Fenster mit.“

 

„Wir mussten unsere Räume erst einigermaßen in Ordnung bringen, die mitgenommenen Fenster einsetzen, den Rest zunageln, ebenso die Türen, einen Ofen suchen und aufstellen.“

 

 „In Schillen war eine Kommandantur, hier mussten wir arbeiten, aber es gab keine Plünderungen und keine Übergriffe durch Russen mehr. Die Frauen waren nun vor Vergewaltigungen sicher.“

 

„Als Verpflegung bekamen, die gearbeitet haben, täglich fünfhundert Gramm Mehl, die Anderen nichts. Wir waren vier Personen, die gearbeitet haben, Vater und ich und die Pferde, Mutter zeitweise, sonst Handarbeit und Opa Nachtwächter bei den Pferden, damit sie nicht von anderen Russen gestohlen wurden.“

 

„1945 sind zwei Tanten von mir in der Heimat verhungert.“

 

„…eintrafen musste von einem Tag auf den anderen unsere Sowchose am 28. März 1946 mit Pferden Menschen und Gerät von Schillen nach Hohensalzburg, ein Kirchdorf 10 Kilometer weiter östlich umziehen. Dort wohnte kein Mensch, früher etwa 300 Einwohner. Alle Häuser innen demoliert. Hier haben wir uns wieder in einem Haus eine Wohnung zurechtgemacht. Fenster und Türen nahmen wir von Schillen mit und hier wurde eine neue Sowchose aufgebaut.“

“Hier war schwerer lehmiger Boden, viele Geräte konnten nur von 4 Pferden gezogen werden. Pflügen mit zwei Scharen 4 Pferde, ebenfalls vierteilige Eggen und drei Meter breite Drillmaschinen wurden mit 4 Pferden bespannt. Ich als 16-jähriger habe im Feld meistens mit 4 Pferden gearbeitet, auch im Herbst beim Einfahren vierspännig.“

 

„Ab 10 Jahren mussten alle arbeiten, von früh Morgens bis spät abends, Sommer und Winter, Sonn- und Feiertags, außer 01. Mai. 1946 wussten wir noch nicht, ob es noch ein „Deutschland“ gibt, es gab keine Zeitung, kein Radio und keine Post.“

 

„Im Juli musste ein Teil der Kutscher, so auch Vater und ich, auf den etwa 15 km entfernten Insterwiesen bei Breitenstein, Heu machen. Wir blieben Tag und Nacht dort, etwa 15 Personen, schliefen auf einem Heuboden. Wir hatten Mähmaschinen mitgenommen, hier hatten Kämpfe stattgefunden.

Überall lag zerschossenes Kriegsgerät, dieses konnte man mit der Mähmaschine umfahren. Oftmals hatte man was im Mähbalken. Nicht selten menschliche Gerippe, ob deutsch oder russisch, ließ sich meist nach anderthalb Jahren nicht mehr feststellen. Wenn das Heu einigermaßen gut war, wurde es in Haufen zusammengefahren, um im nächsten Winter fürs Vieh geholt zu werden.

Ernährt hat sich jeder dort, indem wir etwas Mehl und etwa zwei- bis dreihundert Gramm Brot pro Tag mitbekamen. Jeder hat sich mit Steinen eine Feuerstelle gemacht, damit ein Topf darauf passte. Wir pflückten uns grüne, unreife Äpfel, schnitten diese in den Topf, wo Wasser drin war, streuten ein- bis zwei Hände Mehl hinein, ließen es kochen und dann hat jeder aus seinem Topf gegessen. Zweimal am Tag, morgens und abends, das war die ganze Verpflegung.„

 

„Mit 14 bis 15 bekam jeder, ob Junge oder Mädchen, zwei Pferde und musste damit alle Arbeiten, die anfielen, machen.“

 

„Wer [beim Stehlen] erwischt wurde, bekam Straflager, meist Sibirien. Eine Frau hat für ein Kilogramm Gerstenähren ein Jahr Straflager bekommen, ihre kranke Mutter und ihre beiden Kinder sind verhungert. Zwei Mädchen haben, eine für fünf Kilogramm fünf Jahre und eine andere für sieben Kilogramm Kartoffeln sieben Jahre Straflager bekommen.“

 

„Frauen, die lange Haare hatten, versuchten abends eine Kartoffel im Haarknoten durch die Kontrolle zu bringen. Wir als Kutscher hatten auch unsere Tricks.„

 

„Ab Ende 1946 erhielten wir für die Arbeit Rubel, etwa 120 bis 180 je Vollarbeitskraft und Monat. Dafür mussten wir die Lebensmittel, welche wir alle 10 Tage bekamen, kaufen. In der Regel war es so, wenn man 10 Tage gearbeitet hatte, erhielt man nur für 6 bis 8 Tage Lebensmittelzuteilung. Handarbeitskräfte oft auch noch weniger. Das Geld reichte oft hierfür kaum. An Zuteilung gab es aber nicht immer alles. Brot, 3,50 Rubel je Kilogramm, Mehl 4,40 Rubel je Kilogramm, Butter 60 Rubel, Zucker 60 Rubel je Kilogramm usw.

Als es später auch einiges an Kleidung gab, war diese für uns unbezahlbar, ein paar Schuhe ab 800, ein Anzug weit über 1000 Rubel. „

 

„Vom 05. November bis 20. Dezember 1947 war ich schwer an Typhus erkrankt. Es gab keinen Arzt und keine Medizin. Im Herbst 1947 waren russische Familien in Scharken, etwa zwei Kilometer Richtung Ragnit, angesiedelt und bauten dort eine Kolchose auf. Einige Russen hatten sich eine Privatkuh mitgebracht. Meine Schwester Ruth (9Jahre), ging nun zu denen und kaufte Milch, ein Liter für 10 Rubel. Nur damit als Stärkung wurde ich wieder gesund. Man hatte mich schon überall für tot erklärt, da ich nur noch fantasierte.“

 

 „Im Oktober bis November 1947 kamen russische Familien aus allen Teilen der SU und wurden hier angesiedelt. Denen ging es teilweise noch schlechter als uns. Als sie ankamen, war es in Ostpreußen schon kalt. Sie bekamen Häuser angewiesen, wo nichts mehr ganz war. Da waren nirgends Fenster, Türen, Öfen, Fußböden drin. Oft waren auch Dach und der Schornstein kaputt. Man hatte ihnen gesagt, in Deutschland gibt es keinen Winter.

Sie hatten je Familie 10.000 Rubel erhalten und sich verpflichten müssen, mindestens 10 Jahre in Ostpreußen zu bleiben.„

 

„Ende 1947 erhielten wir und auch andere die erste Post aus Deutschland. Wir hatten uns vor der Flucht ausgemacht, dass wir uns bei einer Cousine von Mutter in Eberswalde melden.

Wir konnten erst nicht schreiben, weil es für Deutsche keine Post gab. Erst Ende 1947 war mit viel Schwierigkeiten es möglich, zu Schreiben. Wir hatten weder Stift noch Schreibpapier, dann musste die Post nach Tilsit gebracht werden und auch dort geholt werden.“

 

„Unseren Natschalnik (Chef), wir hatten in der ganzen Zeit drei oder vier Natschalniks, Von denen sagte mir einer mal, er und die Buchhalter wären sechs Jahre zur Schule gegangen, das war für sie sehr viel. Die anderen Russen hatten alle weniger Schuljahre.

Ich sagte ihm, in Deutschland gehen alle mindestens acht Jahre und auch länger zur Schule. Er fragte darauf: „wer dann in Deutschland arbeiten, wenn alles Professor und Ingenieur?“

 

„Am 31. März 1948 bekamen wir abends bescheid, dass wir am nächsten Morgen nur mit Handgepäck auf dem Marktplatz in Hohensalzburg sein müssen. Wir kämen nach Deutschland. Wir haben die Nacht vor Aufregung nicht mehr geschlafen, haben unser Bündel gepackt, sind dann früh die zwei Kilometer zum Marktplatz gelaufen.“

 

„Wir wurden nun auf LKW geladen und nach Tilsit zum Bahnhof gebracht. Dort kamen noch mehr Deutsche von anderen Sowchosen. Wir wurden nun in Güterwagen verladen, aber erst am nächsten Tag ging es ab bis Königsberg. Hier mussten alle aus dem Zug raus und wurden in eine große Halle am Bahnhof eingewiesen. Hier standen Auto mit Lebensmittel, da hat dann jeder für seine letzten Rubel noch essbares für unterwegs gekauft.

Unterwegs bekamen wir sonst nichts zu essen. Ich weiß nicht mehr, ob am nächsten oder übernächsten Tag dann jeder einzelne durch eine Kontrolle musste, wobei die Russen Jedes für sie noch brauchbare Jedem abnahmen. Dann brachten sie uns zu einem auf deutscher Spurweite stehenden Zug.“

“Als alle nach vielen Stunden verladen waren, zweitausendachthundert Deutsche aus allen Teilen Nordostpreußens, mussten alle wieder einzeln aus den Wagons raus und wurden dann noch einmal namentlich für jeden Wagon aufgerufen. Wenn der Wagon voll war, wurde er geschlossen und mit einem Draht zugebunden und zusätzlich durch einen Posten bewacht.“

 

„Wir waren von Königsberg über Allenstein, Schneidemühl, Küstrin, Frankfurt/oder bis Pasewalk gefahren. Da aber das dortige Aufnahmelager voll war, fuhr der Zug zurück über Berlin, Erfurt, Arnstadt bis Suhl/Heinrichs. Der halbe Zug, auch wir, wurde dort ausgeladen, die andere Hälfte fuhr weiter nach Sonneberg. Das war am 09.April 1948. Wir wurden gleich dem Bahnhof gegenüber in große Hallen eingewiesen. Das war später das Simsonwerk.“

 

„ In einem Raum waren etwa hundertfünfzig bis zweihundert Personen in zweistöckigen Betten untergebracht. Wir wurden nun personalmäßig erfasst, entlaust und ärztlich versorgt. Die Verpflegung war sehr gering, wer noch deutsches Geld hatte, konnte auf dem Schwarzmarkt ein Brot für zweihundert Mark kaufen.“

 

„Am 24. April, als die Quarantänezeit rum war, wurden alle wieder wagonweise auf die Kreise in Thüringen verteilt. Wir kamen nach Eisenach und waren dort hinter dem alten Gaswerk, im Wald in Baracken [früheres Wehrertüchtigungsheim] untergebracht.“

 

„Am Montag, dem 26.04.48 wurden nun alle auf Eisenach und die Dörfer des Kreises aufgeteilt. Meine Eltern, Schwester Ruth und ich, wurden nach Marksuhl geschickt, Oma und Opa Kairies nach Burkhardtroda. Als wir am Nachmittag mit dem Zug in Marksuhl ankamen, schickte uns Bürgermeister Schuhmann zur Gaststätte „Goldener  Engel“ (Bach), dort sollten wir warten, bis er für uns ein Zimmer gefunden habe.“

 

„Wenn abends die letzten Gäste die Gaststätte verlassen hatten, legten wir uns auf den Fußboden und schliefen. Nach drei Tagen bekamen wir ein Zimmer bei Spangenberg in der Hirtgasse 12. Meine Oberbekleidung bestand bei der Ankunft aus einem alten Drilliganzug des Militärs und einen rechten und einen linken aber verschiedenen Schuh. Dazu ein Beutel mit einer Schüssel, Löffel, Feldflasche und einige gerettete persönliche Sachen.“